24 Stunden Zwangsaufenthalt in Görlitz und ein positiver Eindruck
Rückblende:
Im Sommer 2001 war ich zu zweit auf einer Radtour durch Europa. Nach zahlreichen Ländern und Städten fanden wir uns irgendwann auf dem Oder-Neiße-Radweg in Zittau wieder. Nordwärts passierten wir als erstes die sächsische Stadt Görlitz. Die Stadt haben wir nur kurz gestreift, in Erinnerung blieb eine große Kirche am Flussufer mit Blick auf das polnische Zgorzelec, menschenleere Straßen, zerfallene Häuser und eine Grenzkontrolle, bei der man angeblich noch den Reisepass benötigte. Im damaligen Reisetagebuch fand sich anschließend folgender Eintrag:
„…Sind schnell durch Zittau und haben sogar den Neiße-Radweg gefunden. Von dort ging es weiter nach Görlitz. Haben uns dort die Altstadt angesehen. War aber nicht so toll, bis auf Karstadt! Ein Prachtbau von innen, was für eine Decke, ach was, eine Glaskuppel und verzierte Treppen. Hat was von einer Kirche. Zelten heute auf polnischer Seite. Doch hässliche Städte und bettelnde Menschen. Unser erster Eindruck von Polen….“
Gegenwart:
Am 11. Juli 2006 verabschiede ich mich von Monika in Krakau und mache mich auf den 1.080 km langen Heimweg per Wohnmobil nach Essen. Auf der gut ausgebauten Autobahn 4 in Polen passiere ich zuerst Katowice, Gliwice, Opole und Wroclaw. Unterwegs bemerke ich mal wieder dieses merkwürdige Geräusch von den Reifen. Es stört mich beim Genuss meiner Hörspiele. Also lege ich Musik ein und mache diese etwas lauter. Doch es hilft nichts, die Geräusche werden lauter. Am Ende des ausgebauten Autobahnabschnitts muss ich bremsen. Dabei federt mir das Bremspedal entgegen, wie bei einer Vollbremsung mit ABS. Das Problem: Das Auto hat kein ABS und ich mache keine Vollbremsung. Ein kurzes Stück auf der Landstraße, die Musik mittlerweile aus und ich merke, so kann es nicht weiter gehen. Laute merkwürdige Geräusche, ein seltsames Bremsverhalten – ich halte es für sinnvoll eine Werkstatt aufzusuchen. Zuerst werde ich zu zwei Reifenhändlern geschickt, die schicken mich zu einer Werkstatt. Diese ist jedoch zu klein für mein Wohnmobil und empfiehlt mir eine andere. Ich befinde mich in Boleslawiec und kenne mich nicht aus. Die Kommunikation mit den polnischen Werkstattmitarbeitern funktioniert per Handy mit Monika in Krakau. Ich befürchte schlimmstes für meine TelefonrechPingu in Görlitznung. Bei der zweiten Werkstatt wird mir weiter geholfen. Sie ist zwar noch kleiner als die Erste, aber man kann ja auch draußen arbeiten. Der Azubi oder Praktikant oder was auch immer, muss einen Reifen nach dem nächsten heben und überprüfen. Nach einer Stunde Suche das Urteil: Das Radlager ist festgefahren, Austausch heute nicht mehr möglich. Ich sitze also mit meinem kaputten Auto vor einer Werkstatt, die wie keine aussieht, um mich herum Wohnblöcke und ein Garagenhof mit den Garagen 1 bis 31. Der Meister empfiehlt, ich solle bis nach Görlitz fahren, dort könnte man mir vielleicht heute noch weiter helfen. Außerdem sind es nur 40 Kilometer, bei langsamer und behutsamer Fahrt wäre dies kein Problem.
Aha, also Görlitz. Mein erster Gedanke: Da war ich schon mal, große Kirche am Flussufer, Brücke in der Stadt, menschenleere Straßen. Außerdem hat die Stadt bei der Wahl zur Kulturhauptstadt 2010 gegen meine Heimatstadt Essen unterlegen, wird wohl seine Gründe haben. Aber irgendwie noch besser als hier. Also, weiter geht es.
Ich lasse mir per SMS von Monika einige Adressen von Görlitzer Werkstätten geben. Natürlich möchte ich den Wagen aus Kostengründen in Polen reparieren lassen. Kurz vor der Grenze beginnt normalerweise wieder die Autobahn 4. Doch dieses Mal fahre ich an der Auffahrt vorbei, weil ich in die Stadt möchte. Die ulica Turowska suche ich, dort gibt es einen Diesel-Service. Zwei Tankstellen schicken mich weg, sie haben keine Ahnung. Ein Taxifahrer weiß Bescheid, die Straße sei am anderen Ende der Stadt. Unterwegs gebe ich auf, weil ich das andere Ende nicht finde. Ich entschließe mich für die deutsche Seite. Nach Überquerung der Neiße suche ich das Gewerbegebiet. Die erste Werkstatt in der SMS entpuppt sich als Subaru-Händler. Und diese reparieren keinen Ford. Doch man erklärt mir den Weg zu einer Ford-Werkstatt. Ich fahre und fahre und fahre. Auf einer Landstraße soll ich an der dritten Ampel links abbiegen. Das wird nichts, ich sehe den Horizont und bis dahin keine einzige Ampel, geschweige denn drei. Also wende ich, bin auch schon weit aus der Stadt wieder raus auf dem Weg nach Bautzen.
Ein anderer Autohändler erklärt mir den Weg richtig. Die Landstraße war schon okay, ich solle ruhig weiter fahren, aber an der ersten Ampel links. Treffer, es klappt. Kann ja keiner ahnen, dass man erst Bautzen, Zittau und Prag besuchen muss, um die Werkstatt zu finden. Zumindest kam ich mir so vor.
Wie auch immer. Die Diagnose bei Ford bringt dasselbe Ergebnis. Aber auch hier ist heute nichts mehr machbar. Nun, dank ADAC-Plus darf ich in der Stadt übernachten. Das benötigte Ersatzteil kommt morgen früh um Neun, ab 11 könnte der Wagen fertig sein.
Wie weit ist es denn zu Fuß in die Stadt, möchte ich wissen, befürchtend, dass ich diese Landstraße nun laufen muss. Es sei nicht so weit, vielleicht eine Viertelstunde zu Fuß, einfach hier weiter und der Mann von der Reparaturannahme zeigt die Straße hinab.
Ich packe also meinen Rucksack, etwas zu trinken und gehe los. Nach einer Viertelstunde erreiche ich die erste Bushaltestelle, toll. Ich frage eine ältere Dame, sie bestätigt: „Immer geradeaus, aber sie sind doch jung und gut zu Fuß, das schaffen sie schon.“ Danke, denke ich, dann wird es bestimmt auch nicht mehr weit sein. Nach einer weiteren Viertelstunde leere ich meine Wasserflasche als mir auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Digitalanzeige verrät, dass es 34° C sind. Insgesamt bin ich fast eine Stunde unterwegs, bis ich so etwas wie eine Innenstadt ausfindig mache. Und direkt auf der linken Seite sehe ich das Hotel Europa. Das klingt gut, das will ich. Freundlich werde ich begrüßt, bekomme einen Zimmerschlüssel und teile mit, dass das Zimmer vom ADAC übernommen wird. Kein Problem, ich wünsche ihnen einen guten Aufenthalt.
Während ich an der Rezeption warte, schicke ich Monika eine SMS: www.hotel-europa-goerlitz.de Zimmer 403, dort bin ich.
Als ich dann wirklich im Zimmer ankomme, telefonieren wir kurz. Sie meint, ich hätte es schon getroffen, sie schaut es sich gerade im Internet an. Ich habe den Rucksack noch auf dem Rücken, als sie mir ins Ohr spricht, ich hätte auch einen kostenlosen Zugriff auf die Minibar. Tolle Sache mit den modernen Medien, sie ist 400 km weit entfernt und informierter als ich, der in eben diesem Raum steht, den sie sich gerade per Web anguckt.
Wir legen auf und ich suche die Mini-Bar, vergeblich. Also gehe ich wieder hinaus und suche einen Supermarkt. Zwei Flaschen Getränke, etwas Süßkram und ab ins Hotelzimmer. Ich schmeiße mich aufs Bett und genieße die amerikanische Sitcom King of Queens.
Ungeplante Stadtbesichtigung
Danach kommt wieder nur Blödsinn im Fernsehen und ich beschließe, mir die Stadt anzuschauen. Ich gebe ihr nach 2001 eine zweite Chance. Außerdem habe ich jetzt genug Pause gemacht.
Als erstes passiere ich den Postplatz, sieht nett aus. Alte Fassaden, eine schöne Grünanlage. Aber mir stellt sich die Frage, ob das der Grund sein sollte, warum Görlitz Kulturhauptstadt werden wollte? Ich gehe weiter, bin bei Karstadt. Das kenne ich noch von meiner ersten Reise. Ich weiß, dass dieses Karstadt eines der schönsten in Deutschland ist. Ich gehe rein und werde wieder bestätigt. Dahinter erscheinen noch ein Platz und ein runder Turm. Rechts geht es Richtung Neiße. Anschließend halblinks komme ich in die Altstadt. Es ist nicht mehr so menschenleer wie damals und auch die Häuser sehen gar nicht so schlecht aus. Da plötzlich befinde ich mich in einer kleinen Altstadt. Nette Gassen, eine Kunstfigur, die Werbung für die kleine Kneipe Salü macht und eine große Freilichtbühne. Zahlreiche verkleidete Darsteller laufen durch die Gassen und haben gerade Pause. Andere stehen vor der vollbesetzten Tribüne und geben ihr Bestes. Nicht schlecht, denke ich mir und gehe weiter. Ich betrachte das Rathaus und suche die Kirche am Flussufer. Da ist sie, auch sie glänzt mittlerweile mehr, zumindest die Türme. Oder war das schon immer so? Keine Ahnung, aber mir gefällt´s. Ich finde Hinweisschilder auf den Jakobsweg, für mich als Jakobsführer-Schreiberling natürlich nicht uninteressant. Unterhalb der Kirche fließt die Neiße gemütlich. Überspannt wird sie von einer Fußgängerbrücke, die sehr neu aussieht. An beiden Enden sitzen Menschen in Biergärten. Auf der einen Seite zahlen sie mit dem Euro, auf der anderen mit Zloty.
Alles in allem ist die Atmosphäre entspannt und locker.
Ich beschließe, zurück zum Hotel zu gehen und morgen ein paar Fotos zu machen. Im Hotel angekommen finde ich übrigens auch die Mini-Bar. Zur Auswahl stehen unter anderem ein Bier und Salzstangen. Die Entscheidung fällt leicht, prost!
Nach einem guten und leckeren Frühstück im Hotel erobere ich die Stadt erneut. Ich gehe zur Grenzbrücke, wo man auch mit dem Auto drüber fahren darf. Auf dem Weg dorthin passiere ich den Stadtpark. Schön angelegt, grün und ruhig. In einer lauschigen Ecke spielen zwei Leute eine Art Groß-Schach. Meine Erinnerung bestätigt, dass links von der Grenzbrücke irgendeine Art Grünanlage war. Doch damals sah ich sie mit anderen Augen. Es geht hinab und ich erreiche nach kurzer Ausweiskontrolle die Grenzbrücke. Sie trägt heute den Namen des Papstes, der 2005 verstarb. War da nicht mal eine Art Anzeigetafel, dass man die Republik Polen betritt und auch ein polnisches Grenzwärterhäuschen? Alles weg. Ich gehe an Wechselstuben vorbei, denke an die Bettlerin von damals, die mir meinen ersten Polen-Eindruck verpasste, laufe die Straße hoch und auf der anderen Seite wieder hinab. Ich sehe Schilder vom Jakobsweg, gehe zum Touristenbüro und wechsle wieder die Flussseite bzw. den Staat. In Görlitz wandere ich noch zum ADAC um ein paar Fragen zu klären. Die nette Dame dort hat eine Tochter in Essen und war vor kurzem selbst in Essen. Sie war von Essen so begeistert wie ich von Görlitz. Wir plaudern über unsere Heimatstädte und geben uns kulturelle Tipps. Wenn das die Europäische Kommission zur Vergabe der Kulturhauptstadt wüsste…
Nochmals quere ich die schöne Altstadt, darf auf die oberste Etage der Freilichtbühne um ein Foto zu machen und passiere die zahlreichen Plätze der Stadt. Neben der Touristeninformation auf deutscher Seite befindet sich die Pinguin-Eisbar. Pingu ruft, dort sind Verwandte von ihm… und tatsächlich. Vor dem Eisladen stehen Pinguin-Stofftiere, was natürlich sofort fotografisch festgehalten wird.
Ich gehe zu Karstadt, was ich noch von vor fünf Jahren in Erinnerung habe und frage dort freundlich, ob es wohl erlaubt sei, ein Foto von der Inneneinrichtung zu machen. Völlig nett kommt die Antwort, das sei doch selbstverständlich. Ich bin wieder erstaunt, mache mein Foto, lese draußen in der Sonne die Zeitung und gehe zum Hotel zurück. Um kurz vor 13 Uhr klingelt das Handy, mein Auto sei repariert, ich kann es abholen. Ich habe es gar nicht so eilig aus dieser schönen Stadt zu verschwinden. Aber ich denke mir, ich komme wieder. Irgendwann – auf jeden Fall!
Resultat:
Hätte ich nicht diese Autopanne gehabt, dann hätte ich nie erfahren, wie schön diese Stadt wirklich ist. Vor fünf Jahren bekam ich einen falschen Eindruck, der sich bei mir hielt mit der Frage: „Warum wollen die Kulturhauptstadt werden?“ Heute weiß ich, sie haben nur knapp verloren und die Stadt Görlitz hätte es ebenfalls verdient gehabt, den Titel zu bekommen.
Hinzu kommt, dass jeder Mensch dort freundlich zu mir war. Ob es nun die Dame vom ADAC war, die Verkäuferin bei Spar oder Frau Seliger vom Hotel Europa. Alle hatten ein Lächeln übrig, machten einen glücklichen oder zumindest zufriedenen Eindruck und haben mir den Zwangsaufenthalt ganz unbewusst zu einem äußerst angenehmen Aufenthalt gestaltet. Im Übrigen bin ich nach der Abholung des Wagens noch mal zum Obermarkt gefahren, fand dort sofort einen Parkplatz und wollte einen Parkschein ziehen, als der Parkautomat mir verriet, die erste Viertelstunde sei kostenlos. Weiter so, Görlitz!
Danke Görlitz, ich habe mich wohl gefühlt!
Übrigens gab es einige Zeit später einen Zeitungsartikel über diese Autopanne.
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