Moin tosamen — Um mal etwas anderes als ein Rätsel oder die neuste Spekulation von der Corona-Front bzw. der politischen Weltlage zu posten, habe ich mal in meinem Tagebuch gestöbert und bin auf die folgenden völlig unspektakulären Notizen gestoßen:
Wastin’ Time — Ein Vormittag auf Hooge
Sittin’ on the dock of the bay,
Watching the tide roll away,
I’m just sittin’ on the dock of the bay
Wastin’ time. – Otis Redding
Es mag gegen elf Uhr sein; ich sitze auf meiner Lieblingsbank auf Hooge, vor mir ein breiter Wasserlauf. Rechts ein kleiner Steg und halblinks, wohl einige hundert Meter entfernt auf der anderen Seite des Priels, die Kirchwarft, vornweg das niedrige reetgedeckte Kirchlein und dahinter imposanter und höher das sie überragende Pastorat. Rechts von ihm ein solitärer Baum, dessen Höhe die Wohnstätte des Pastors noch zu übertreffen scheint. Ein Trupp Graugänse betrachtet die Szene von oben.
Mir fast genau gegenüber, vielleicht eine halbe Meile Luftlinie entfernt, bildet die Hanswarft, von der ich kam, einen Buckel auf der ansonsten geraden Horizontlinie. Der Himmel ist wolkenlos, am Horizont und über der Warft etwas diesig-grau, und geht zur Unendlichkeit hin in ein tiefes Blau über. Der Wind, von mir als kräftig empfunden und von den Halligbewohnern wohl nur als sachte Brise akzeptiert, drückt die Binsen der Uferböschung tief zum Wasser hinunter und weht mir beim Schreiben die Blätter um den Bleistift.
Ich blinzele in die Sonne. Sie scheint mir von halbrechts ins Gesicht und lässt das Wasser in einem breiten, ausgefransten Streifen, der sich diagonal zur anderen Seite des Priels hinüberzieht, flimmern, mittendrin und kaum auszumachen in dem gleißenden Licht zwei Enten. Noch weiter rechts gleiten im Schatten der jenseitigen Uferböschung zwei Schwäne über das Wasser. Schwäne sind sich ein Leben lang treu, vielleicht sind es dieselben, die ich gestern Abend fotografierte. Drei Graugänse haben sich von dem Trupp über der Kirchwarft abgesondert und fliegen mit lautem Spektakel und weit vorgestrecktem Hals den Priel hoch.
Nach meiner Kameraruhr, denn eine andere habe ich nicht, sitze ich hier seit mehr als anderthalb Stunden. Die Passanten in dieser Zeit: Eine Dame in einem dunklen Hosenanzug, von links kommend, also aus Richtung der Kirchwarft. Die Pastorin? Dann von rechts auf einem Fahrrad ein Mann mit weißgrauem Vollbart und einem Hund an der Leine. Es sieht so aus, als ob der Hund das Fahrrad zieht, vielleicht macht es der Rückenwind. Eine ganze Weile später erscheint eine Fußgängerin mit zwei Hunden, einem großen graugescheckten auf vier Beinen und einem etwas kleineren braungescheckten auf dreien. Beide scheinen ihren Ausflug zu genießen, der Dreibeinige nicht weniger lebhaft als der auf vier Pfoten. Eine halbe Stunde später lässt mich ein Tuckern nach rechts blicken. Ein grüner Trecker naht und passiert meine Bank, am Lenkrad ein Mann mit einer Schiffermütze, der eher nach einem Seebären als nach einem Bauern aussieht. Jetzt kommt der Weißgraubärtige auf seinem Fahrrad zurück und scheint seinen Hund im Gegenwind zu ziehen.
Die Geräusche: Der Wind, der Wind und der Wind. Das Rascheln und Rauschen der Binsen im Wind. Das Rascheln der Papierseiten meines Tagebuchs, wenn der Wind sie mir aus der Hand schlägt und um den Bleistift flattern lässt. Das Spektakel der Graugänse, wenn ein Trupp aus den Halligwiesen aufsteigt. Und wenn der Wind hin und wieder aussetzt um neu Atem zu schöpfen, dringt von der Hanswarft das Muhen von Kühen zu mir herüber.
Es ist schon halb zwei, hat mir der alte Mann erzählt, der am Stock langsam des Weges kam und sich zu mir auf die Bank gesetzt hat. Da muss ich mich sputen, um mien Deern von ihrem Malkurs auf der Hanswarft abzuholen. Wir wollen zusammen Essen gehen, ehe das Malen am Nachmittag fortgesetzt wird. Ich schwinge mich auf den Fahrradsattel, trete in die Pedale und summe Sittin’ on the dock of bay vor mich hin.
Einen schönen Tag wünsche ich allen
Jürgen